Grundlagen
Eingewöhnung muss sein
– wohl niemand aus dem pädagogischen Bereich würde hier widersprechen. Aber warum ist sie so wichtig? Hier lohnt sich ein Blick auf die Forschungsergebnisse der vergangenen dreißig Jahre: Schon 1989 zeigten Erkenntnisse aus der Studie des Soziologen Hans-Joachim Laewen an der Freien Universität Berlin, dass professionell eingewöhnte Kinder, die in den ersten drei Tagen keinem Trennungsversuch ausgesetzt waren und von einem Elternteil begleitet wurden, viermal weniger häufig erkrankten als Kinder, die innerhalb der ersten drei Tage eine Trennung erleben mussten. Außerdem zeigten sich bei Kindern ohne professionelle Eingewöhnung deutliche Entwicklungsrückstände nach sieben Monaten in der Krippe.
Auch weitere Forschungen zum Trennungserleben von Kindern, Transitionsforschung und Forschungen zur Eingewöhnung zeigen, dass eine professionelle Eingewöhnung für die psychische, seelische und emotionale Gesundheit unabdingbar ist. Neuere Forschungen, etwa von Karl Heinz Brisch, einem Bindungspsychotherapeuten, zeigen, dass durch Trennungserfahrungen und Vernachlässigung bei Kindern Stress ausgelöst wird, der negative Folgen für die kindliche Entwicklung hat.
Verschiedene Forschungen, unter anderem des Psychoanalytikers Wilfried Datler und der Entwicklungspsychologin Liselotte Ahnert zum Wohlbefinden von Kindern beim Eintritt in eine institutionelle Betreuung, machen auf die Bedeutung eines sanften und begleiteten Überganges von der familiären in die außerfamiliäre Betreuung aufmerksam. Dabei wird das Knüpfen neuer Beziehungen zu mindestens einer pädagogischen Bezugsfachkraft als wichtigste Voraussetzung für die Sicherung des physischen, psychischen, seelischen und geistigen Wohlbefindens des Kindes gesehen. Entscheidend ist daher, ob es der Trias Kind- Eltern-pädagogische Fachkraft während der Eingewöhnung gelingt, eine Beziehung zueinander aufzubauen und diese gemeinsam auszugestalten.
Alle Forschungsergebnisse der vergangenen dreißig Jahre zeigen, dass die Eingewöhnung ein ganz besonders markantes Lebensereignis für das Kind ist und die zeitweilige Trennung von seinen Eltern als einer der wichtigsten Stressauslöser in der frühen Kindheit gilt und daher besonders gut reflektiert werden sollte.
Warum ein neues Eingewöhnungsmodell?
Obwohl die Forschung uns gezeigt hat wie wichtig die Eingewöhnung eines Kindes ist, gibt es immer wieder Eingewöhnungsprozesse, die nicht besonders sensibel durchgeführt werden. So konnte ich in Kitas häufig Trennungsszenen in der Eingewöhnungszeit beobachten, in denen Kinder bei der Verabschiedung herzzerreißend weinen oder versuchen, sich an ihrer Bezugsperson festzuklammern. Häufig erlebte ich, dass eindeutige körperliche Signale von Kindern, mit denen sie Verzweiflung, Überforderung und Unwohlsein zum Ausdruck bringen, von den begleiteten Erwachsenen nicht gelesen oder nicht angemessen beantwortet wurden.
Die wichtigste Aufgabe während der Eingewöhnung ist, dass das Kind zusammen mit seiner vertrauten Bezugsperson eine Beziehung zu einer pädagogischen Fachkraft entwickelt, die sich langsam aufbauen kann und die mit Gefühlen des Wohlbefindens verknüpft ist. Kinder sind auf Bezugspersonen angewiesen, um sich bei belastenden Gefühlen wie Angst oder Trauer Sicherheit holen zu können. Bei Wut wiederum brauchen sie Unterstützung, um mit dieser umzugehen, und in Momenten der Freude sollen sie ihr Glück teilen können.
Um solch eine Beziehung aufzubauen, brauchen Kinder Zeit. Werden Sie von ihren Eltern in der Krippe, Kita oder Tagespflege zurückgelassen, ohne dass solch eine Beziehung zur pädagogischen Fachkraft schon aufgebaut werden konnte, kann eine Trennungserfahrung als traumatisch erlebt werden. Wilfried Datler und seine Kolleginnen und Kollegen schreiben dazu: „Sind solche vertraute Bezugspersonen nicht vorhanden, so drohen Kleinkinder von belastenden Gefühlen der Angst, des Verlorenseins, der Verzweiflung oder auch der Wut überschwemmt zu werden, ohne eine Möglichkeit zu haben, sich von diesen Gefühlen zu befreien. Geraten Kleinkinder in solche Situationen, so drohen diese für die Kinder traumatisch zu werden, da sich das Erleben traumatischer Situationen genau dadurch auszeichnet, dass sich Menschen bedrohlichen Gefühlen intensiven Ausmaßes ausgesetzt fühlen, ohne über eine Möglichkeit zu verfügen, diese zu lindern.“ Auch zeigte die Wiener Krippenstudie deutlich, dass still leidende Kinder häufig übersehen und deshalb nicht angemessen begleitet werden während des Eingewöhnungsprozesses.
Signale von Eltern und Kindern ernst nehmen
All dies war Grund genug für mich, ein neues Eingewöhnungskonzept zu entwickeln, in dem Kindern und deren Eltern die Rolle zugeschrieben wird, die es braucht um einen sanften, gut begleiteten Übergang von der einen in die andere Lebensphase zu erleben – ohne dabei traumatischen Erfahrungen ausgesetzt zu werden: das Partizipatorische Eingewöhnungskonzept. In dieses Eingewöhnungskonzept fließen meine langjährigen Beobachtungen aus der Praxis ein. Ich wollte ein Konzept entwickeln, in dem man das Recht des Kindes auf Gehör, wie es in Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention beschrieben ist, ernst nimmt und die kindlichen sowie die elterlichen Signale im Eingewöhnungsverlauf ernsthaft berücksichtigt.
Es braucht pädagogische Fachkräfte, die feinfühlig auf die Signale der Kinder, aber auch ihrer Eltern, achten und prompt auf sie reagieren, da diese schnelle und angemessene Reaktion der Stressregulation dient. Deshalb kommt dem Wahrnehmenden Beobachten in der Partizipatorischen Eingewöhnung eine zentrale Rolle zu. Indem die pädagogische Fachkraft wahrnehmend beobachtet, kann sie feinfühlig und responsiv auf die kindlichen Signale eingehen. Die Stimmen der Kinder und die nonverbalen kindlichen Signale werden darüber mit allen Sinnen „gehört“, sodass die Kinder sich mit ihren individuellen Bedürfnissen und Interessen ernst genommen fühlen. Teilnahme, Resonanz und Verständigung werden während der gesamten Eingewöhnung als Grundlage für einen aktiven und mitbestimmten Prozess gesehen und gelebt. Je intensiver die pädagogische Fachkraft die Kennenlernphase zum Wahrnehmenden Beobachten nutzt, desto besser kann sie später in ihren Kontaktversuchen an ihre Beobachtungen anknüpfen und die Erkenntnisse aus der Beobachtung passgenau nutzen. Auf dieser Grundlage kann der erste Kontakt zum Kind und seinen Eltern sensibel gestaltet werden. Die pädagogische Fachkraft nimmt sowohl die Signale des Kindes als auch des Elternteils aufmerksam wahr und beantwortet diese angemessen – sowohl sprachlich als auch nonverbal über ihren Gesichtsausdruck und ihre Körperhaltung.
Häufig erleben die Eltern die Eingewöhnungszeit als sehr ambivalent. Sie durchlaufen große emotionale Schwankungen, die oftmals nicht direkt von ihnen ausgesprochen werden. Das Wahrnehmende Beobachten hilft der Pädagogin, die elterlichen Signale wahrzunehmen und feinfühlig darauf zu reagieren. Spricht sie die Eltern behutsam darauf an, was sie wahrgenommen hat, könnte es gut sein, dass die Bezugsperson ihre Gedanken und Gefühle mitteilt und sich für einen Austausch auf der emotionalen Ebene öffnet. So kann ein Vertrauensverhältnis entstehen, das als Basis für eine gute Bildungspartnerschaft unverzichtbar ist. Spürt das Kind, dass sich seine Bezugsperson wohlfühlt mit der pädagogischen Fachkraft, so wird auch das Kind es leichter haben eine Beziehung zu der pädagogischen Fachkraft aufzubauen.
Wahrnehmendes Beobachten – die Grundlage pädagogischen Handelns
Zudem kann das Wahrnehmende Beobachten hervorragend dazu beitragen, das Kind in der Eingewöhnung mit seinen Potenzialen und Fähigkeiten kennenzulernen:
- Welche Interessen hat das Kind?
- Welche Weltzugänge nutzt es besonders gerne?
- Wie bringt es zum Ausdruck, was es beschäftigt?
- Was braucht das Kind, um sich wohlzufühlen und ins Spiel zu finden?
Spüren Kinder, dass man auf ihre Tätigkeiten fachlich antwortet, indem man sie bei ihren selbst gewählten Aufgaben begleitet, unterstützt oder herausfordert, fühlen sie sich verstanden. Wenn die pädagogische Fachkraft etwa in den ersten Tagen immer wieder beobachtet, dass das Kind gerne mit Bällen spielt, könnte sie in der nächsten Phase der Kontaktaufnahme dem Kind verschiedene Bälle zur Verfügung stellen. Sie könnte das Kind zu einem gemeinsamen Spiel einladen, indem sie den Ball zum Kind rollt, um in Kontakt zu kommen und in Interaktion zu treten.
Da jede Eingewöhnung sehr individuell und unterschiedlich verläuft, ist die wichtigste Kompetenz innerhalb des Eingewöhnungsprozesses eine professionelle, empathische Haltung der Fachkraft. Das Wahrnehmende Beobachten ist hier wichtige Entscheidungsgrundlage für die nächsten Schritte und hilft der pädagogischen Fachkraft, dem Kind wie auch den Eltern feinfühlig zu begegnen. Es ist eine wichtige Aufgabe der Pädagogin, das Kind dabei zu unterstützen, seine Gefühle zu regulieren, indem die Fachkraft die Gefühle des Kindes etwa über ihren Ausdruck in ihrer Gestik und Mimik spiegelt und die Gefühle des Kindes in Worte fasst. Wenn das Mitfühlen aber in ein Mitleiden überschwappt oder umgekehrt die Fachkraft sich selbst in dem Prozess gar nicht fühlen kann, so könnte es sein, dass sie selbst noch ungelöste Themen hat, die sich hier zeigen.
Das Wahrnehmende Beobachten unterstützt die Fachkraft dabei, in sich selbst hinein zu fühlen. Wie geht es ihr selbst während der Eingewöhnung, während sie das Eltern-Kind-Paar begleitet? Fachkräfte sollten während der Eingewöhnung bewusst auf eigene Wahrnehmungen achten – auch und gerade mit ihrer körperlichen und emotionalen Wahrnehmungsfähigkeit. Die Voraussetzung hierfür ist innere Beteiligung und der Versuch, sich in das Kind einzufühlen, um die Bedeutung des Geschehens aufzuspüren. Um den Schmerz des Kindes, den es vielleicht bei der Trennung von der Bezugsperson empfindet, „containen“ zu können, wie es der Psychologe und Psychotherapeut formuliert, müssen sie empathisch mitfühlen ohne mitzuleiden. Merken Sie nun, dass Sie bei Eingewöhnungssituationen selbst immer wieder großen Kummer erleben und den beim Kind wahrgenommenen Schmerz zu Ihrem eigenen machen, ist es wichtig, dass Sie sich zunächst mit Ihren eigenen biografischen Erfahrungen zum frühen Trennungserleben auseinandersetzen und diese reflektieren und bei Bedarf auch therapeutisch verarbeiten. Auch wenn Sie merken, dass Sie bei Eingewöhnungen eher gefühlstaub sind, die Gefühlsäußerungen der Kinder eher unterdrücken möchten („Ach, das ist doch nicht schlimm“) und die Kinder von ihren Gefühlen ablenken („Du brauchst nicht weinen, wir spielen hier doch ganz schön“) lohnt es sich zu schauen, ob eigene unverarbeitete Erlebnisse einem sensitiv responsiven (Remsperger 2011) begleiten der Kinder im Wege stehen. Diese doppelte Aufmerksamkeit bedeutet demnach gleichzeitig immer Biografie-Arbeit. Es gehört zur pädagogischen Professionalität zu klären, warum bestimmte Situationen bestimmte Gefühle auslösen. Dazu braucht es Mut, weil wir oft in Situationen hineingehen, die wir vor langer Zeit als sehr unangenehm empfunden haben – meist sind dies (unbewusste) Erfahrungen aus der eigenen Kindheit. Und dennoch lohnt es sich so sehr, da wir immer dann Anteile von uns selbst abgespalten haben, wenn wir in Situationen waren, die für uns zu überwältigend waren. Wir konnten aus diesem Grund damals diese Gefühle nicht fühlen und haben sie stattdessen weggeschoben. Wenn es nun gelingt – in einer gut betreuten Situation – diese Anteile von uns zu uns zurückzuholen, fühlen wir uns ein Stück ganzer, freier und gleichsam auch präsenter. Barbara Leitner schreibt: „Ich betrachte eine empathische Beziehung von pädagogischen Fachkräften zu sich selbst als eine wesentliche Grundlage für einfühlsame, unterstützende Beziehungen zu Kindern und anderen Akteuren, die erst die pädagogische Kompetenz zur Entfaltung bringt und damit zu Qualität in der Kita führt. Empathisch mit sich selbst zu sein schließt u.a. die Fähigkeit und Bereitschaft zur Selbstfürsorge und Selbstregulation ein, verlangt auf den eigenen Körper, die Gefühle und Gedanken freundlich und mitfühlend zu schauen (…).“ (Leitner 2021, S. 14). Nehmen wir uns selbst bewusster wahr, so können wir auch Kinder und ihre Signale besser wahrnehmen und unterstützen. Im Umkehrschluss bedeutet dies auch, dass die Fachkraft vor allem dann die Gefühle des Kindes und der Eltern spüren und Mitgefühl zeigen kann, wenn sie von ihren eigenen Gefühlen nicht abgetrennt ist.
Eine biographische Aufarbeitung des eigenen frühen Trennungserlebens empfiehlt sich für alle Pädagoginnen und Pädagogen, die Kinder und Eltern in Eingewöhnungsprozessen unterstützen möchten. Sie ist eine wichtige Voraussetzung, um Eltern und Kinder professionell bei diesem Schritt begleiten zu können.
Dieser Artikel wurde im September 2021 veröffentlicht:
Alemzadeh, M. (2021). Traumafrei eingewöhnen. TPS Theorie und Praxis der Sozialpädagogik, Traumapädagogik. Heft 9/21. S. 36–39.